In Deutschland wird Selbstständigkeit häufig mit Skepsis betrachtet. Anders als in vielen anderen Ländern, in denen Unternehmergeist als Motor für Innovation und Wachstum gesehen wird, scheinen Selbständige hierzulande oft auf Ablehnung oder gar Misstrauen zu stoßen. Doch warum ist das so? Welche gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Faktoren tragen zu dieser Haltung bei? Welche Folgen hat das für die Zukunft der deutschen Wirtschaft?
Die deutsche Arbeitskultur: Sicherheit statt Risiko
Ein wichtiger Faktor ist das typisch deutsche Sicherheitsdenken. Die deutsche Arbeitskultur ist stark von festen Strukturen und Sicherheiten geprägt – sichere Arbeitsplätze, unbefristete Verträge, feste Rentenansprüche und umfassender Sozialschutz gelten als grundlegende Werte. Selbstständigkeit hingegen wird oft mit Unsicherheiten verbunden: Einkommen kann schwanken, soziale Absicherung muss eigenverantwortlich organisiert werden, und der Weg zum Erfolg ist oft voller Risiken. Diese Unsicherheiten widersprechen der traditionellen deutschen Vorstellung eines geregelten, stabilen Lebens.
Sozialsystem und Bürokratie: Eine Herausforderung für Selbständige
Das deutsche System ist stark auf Angestellte ausgerichtet. Die gesetzlichen Sozialversicherungen – Kranken-, Renten-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung – sind für Angestellte gut organisiert und teils automatisch geregelt. Für Selbständige ist die Absicherung oft kompliziert und teuer. Die private Altersvorsorge muss eigenständig und kostspielig aufgebaut werden, und die Krankenversicherung kann besonders für kleine Selbstständige eine erhebliche finanzielle Belastung darstellen. Hinzu kommt eine undurchsichtige Bürokratie, die mit endlosen Formularen, Nachweisen und Berichten für viele Selbständige frustrierend und belastend ist.
Das Stigma der Scheinselbständigkeit und die arbeitnehmerähnliche Selbständigkeit
Die Angst vor Scheinselbständigkeit ist in Deutschland allgegenwärtig. Wer als Selbstständiger tätig ist, insbesondere in langfristigen Projekten oder für wenige Auftraggeber, läuft Gefahr, vom Finanzamt oder der Deutschen Rentenversicherung als scheinselbständig eingestuft zu werden. Diese Einstufung kann schwerwiegende finanzielle Folgen haben, da rückwirkende Sozialversicherungsbeiträge drohen, und gilt als erhebliche Hürde für viele Selbständige.
Hierbei ist es wichtig, zwischen Scheinselbständigkeit und arbeitnehmerähnlicher Selbständigkeit zu unterscheiden:
Scheinselbständigkeit liegt vor, wenn Selbständige formal unabhängig auftreten, tatsächlich jedoch wie Angestellte arbeiten, etwa mit festen Arbeitszeiten, Weisungsgebundenheit und ähnlichen Strukturen. Diese Konstellation wird oft als Umgehung sozialer Schutzpflichten gesehen, weshalb der Gesetzgeber hier genau hinschaut. Die Folgen einer Einstufung als Scheinselbständiger können schwerwiegend sein: Neben einer rückwirkenden Zahlungspflicht der Sozialversicherungsbeiträge – die teils Jahre zurückreichen kann – drohen auch Strafzahlungen und möglicherweise sogar die Verpflichtung des Auftraggebers, nachträglich Arbeitsverträge anzubieten. Dies führt zu einem erheblichen Risiko sowohl für Selbständige als auch für Auftraggeber, die häufig zögern, mit Einzelunternehmern in eine langfristige Zusammenarbeit zu gehen. Die Last der Konsequenzen dieseer Einstufung liegen hier bei Auftraggeber und -nehmer.
Arbeitnehmerähnliche Selbständigkeit beschreibt hingegen eine selbständige Tätigkeit, die jedoch starke Abhängigkeiten zum Hauptauftraggeber aufweist – etwa weil der größte Teil des Einkommens von einem einzigen Kunden kommt. In diesem Fall gelten spezifische Pflichten, wie etwa die Rentenversicherungspflicht, die jedoch von Scheinselbständigkeit unterscheidbar ist. Eine Einstufung als arbeitnehmerähnlicher Selbständiger bringt zwar einige Kosten und Verpflichtungen mit sich, wie den Aufbau einer zusätzlichen Rentenversicherung, jedoch bleibt die unternehmerische Freiheit bestehen, und der Selbständige wird weiterhin als rechtlich unabhängig anerkannt. Für Auftraggeber besteht dabei weniger rechtliches Risiko, sodass die Konsequenzen hauptsächlich den Auftragnehmer treffen.
In der Praxis bleibt die Grenze zwischen beiden Formen oft schwammig, was dazu führt, dass Selbständige häufig in einem rechtlichen Graubereich agieren. Die Unsicherheit, welche rechtlichen Konsequenzen drohen könnten, wenn eine Einstufung seitens der Behörden vorgenommen wird, schafft ein Klima der Vorsicht, das sowohl Selbständige als auch Unternehmen hemmt. Ein klareres Regelwerk und mehr Rechtssicherheit könnten hier für Entlastung sorgen. Alle Versuche hier Klarheit zu schaffen – wie zum Beispiel die Plattformrichtlinie der EU sorgen bisher nur für eine noch größere Rechtsunsicherheit für die Selbständigen.
Fehlende Förderung und Anerkennung für Gründer und Kleinunternehmen
Während Großunternehmen in Deutschland steuerliche Vorteile und Förderungen genießen, fehlt oft eine klare Unterstützung für kleine Selbständige und Einzelunternehmer. Initiativen wie Gründerzuschüsse oder staatliche Beratungsförderungen sind zwar vorhanden, jedoch vergleichsweise begrenzt und oft bürokratisch. Es mangelt an einer Kultur, die Selbständigkeit als bereichernde und wertvolle Form der Beschäftigung anerkennt. Anders als in den USA oder Großbritannien, wo Startups und Freelancer häufig als Zukunftsmotoren gefeiert werden, haftet der Selbständigkeit in Deutschland häufig der Ruf des Unbeständigen und Risikohaften an.
Gesellschaftliche Erwartungshaltung: Ein traditionelles Verständnis von Erfolg
In der deutschen Gesellschaft gilt der klassische, erfolgreiche Werdegang oft als derjenige, der über eine Ausbildung oder ein Studium zu einer Festanstellung und einem beständigen Einkommen führt. Am besten wird noch verbeamtet. Selbständige hingegen werden oft als Menschen betrachtet, die nicht den „sicheren“ Weg gehen oder denen „etwas fehlt“. Diese gesellschaftlichen Erwartungen üben auf viele Menschen Druck aus und führen dazu, dass eine Karriere als Selbständiger, insbesondere im Freundes- und Familienkreis, nicht immer auf Zustimmung trifft.
Die Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft und Gesellschaft
Diese Faktoren haben langfristige Konsequenzen für die deutsche Wirtschaft. Die Innovationskraft kleiner Unternehmen und Startups wird gehemmt, und viele Talente, die für eine Selbständigkeit brennen, wenden sich ab oder wandern ins Ausland ab, wo sie auf eine offenere und unterstützendere Kultur treffen. Gerade in Zeiten, in denen Flexibilität und Innovation gefragt sind, kann diese ablehnende Haltung gegenüber der Selbständigkeit Deutschland wirtschaftlich schwächen und die Attraktivität als Standort für kreative Köpfe und Unternehmertum mindern.
Wie könnte sich das ändern?
Eine Förderung der Selbständigkeit in Deutschland könnte durch verschiedene Maßnahmen erreicht werden:
- Vereinfachte Bürokratie und eine klare Abgrenzung zur Scheinselbständigkeit: Vereinfachte Prozesse und eine klarere rechtliche Unterscheidung könnten den Einstieg in die Selbständigkeit erheblich erleichtern.
- Anpassungen im Sozialsystem: Flexiblere Versicherungsmodelle, die speziell auf die Bedürfnisse von Selbständigen eingehen, würden eine wichtige Grundlage schaffen.
- Mehr gesellschaftliche Anerkennung und Unterstützung für Gründer: Eine Kultur, die Mut und Unternehmertum fördert und Selbständigkeit als gleichwertigen Weg anerkennt, könnte zur Veränderung der Wahrnehmung beitragen.
Wir brauchen dringend eine neue Einstellung zur Selbständigkeit. Die Gesellschaft muss erkennen, dass Selbständige – egal ob als Freiberufler, Kleinunternehmer oder Startup-Gründer – einen wichtigen Beitrag zur Wirtschaft leisten und oft am Puls der Zeit arbeiten. Sie fördern Innovation, schaffen Arbeitsplätze und reagieren flexibel auf Marktbedürfnisse. Eine modernere, offenere Haltung gegenüber Selbständigkeit könnte nicht nur die Wirtschaft stärken, sondern auch Deutschland als Wirtschaftsstandort insgesamt attraktiver und zukunftsfähiger machen.